Das Tor zur Thassa
Amira war früh erwacht am Morgen nach ihrer Entgleisung. Cato lag noch neben ihr in tiefem Schlaf. Er war spät gekommen, so spät, dass kein Gespräch mehr möglich gewesen war. Und jetzt wollte sie den Schlaf nicht stören, den er in diesen Tagen so dringend brauchte. Also glitt sie leise unter dem Laken hervor und lief ebenso leise über die Teppiche hinüber zum dem Teil der obersten Etage des Palastes, der ihren Ankleidebereich darstellte. Yenee lag zusammengerollt auf dem Fell vor Catos Seite des Bettes, wo sie meist die Nacht verbrachte. Ihre ebenmäßige dunkle Haut hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen, das schwarze, aus vielen winzigen geflochtenen Zöpfchen bestehende Haar, hatte sich neben ihrem Kopf ausgebreitet wie ein Fächer aus schwarzer bestickter Seide. Sie war nackt. Aber das war kein Grund zu frieren an diesem Morgen. Die kurzen Nächte der Dunkelheit vermochten die Stadt kaum abzukühlen, nachdem das Zentralfeuer sie tagsüber in einen Backofen verwandelte.
Amira wusch sich flüchtig und wählte dann eine Kombination aus Rock, Bluse und Mieder aus, legte einen dunkelblauen Umhang darüber und dazu einen einfachen Schleier. Das Haar war schnell gebürstet und in einem einfachen Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Dann nahm sie die Sandalen in die Hand und wandte sich Richtung Tür. Auf der darunter liegenden Etage befanden sich die Wohnräume und die Küche. Greta und Shamoni hatten hier ihren Schlafplatz. Eine von ihnen war offenbar schon auf und hantierte in der Küche herum. Die Vorbereitungen für den Tag. Amira glitt grußlos und rasch am Durchgang vorbei und weiter nach unten in die Empfangshalle. Erst hier schlüpfte sie in ihre Sandalen und verließ den Palast mit einem leisen Gruß an die beiden Wachen, die auf baldige Ablösung durch die Tagwache hofften.
Sie nahm einen Umweg Richtung Hafen in Kauf und sprach im Tempel ein kurzes Gebet für mehr Besonnenheit und Gleichmut. Dann lief sie die Badehausgasse entlang und von dort aus nach links an der Stadtmauer entlang Richtung Stadttor. Ein Spaziergang am Vosk war unterbewusst ihr Ziel. Noch waren am Hafen nur die Marktleute dabei ihre Stände zu bestücken. Reges Treiben herrschte noch nicht. Aber als sie durch den Durchgang zum Hafen trat, erblickte sie rechts von sich, gleich vor der Teestube einen Rarius im Gespräch mit Lady Talia.
Das Gespräch mit Lady Talia sollte sich als wegweisend für den Tag erweisen. Getrieben von Selbstzweifeln stellte sich Amira seit dem gestrigen Abend immer wieder die Frage, ob sie ihr Amt niederlegen sollte. Talia indessen ermutigte sie über die Ziele von Lady Ravenna nachzudenken. Würde sie nicht Ravenna in die Hände spielen, wenn sie nun aufgab, ihr Amt aufgab und sich vielleicht in den Palast zurückzog und Cato seinen Beratern überließ? Offensichtlich war Ravenna doch sehr daran gelegen, die Familie des Administrators zu spalten. Der Rarius, ein Sir Jarcath, erwies sich als Hinweisgeber, den Amira in keinster Weise einzuschätzen vermochte. Da Talias Worte ihr einleuchteten und der Morgen nun schon weit fortgeschritten war, machte sie sich auf den Rückweg zum Palast um Cato nicht zu verpassen. Sie musste ihn unbedingt sprechen, bevor die Pflichten des Tages ihn erneut aufsaugten wie trockene Wiesen den Regen.
"Sagt Sir Cato, dass ich gefunden habe, wonach er suchte!" gab Talia ihr noch mit auf den Weg. Amira nahm diese rätstelhafte Aussage auf und mit sich Richtung Palast. Sie sollte später am Tag herausfinden, was es damit auf sich hatte.
Als sie zurück in den Palast kam, wartete Cato bereits auf sie. Sie war erleichtert und verängstigt zugleich. Es war gut möglich, dass er sie strafen wollte wegen des gestrigen Vorfalls, aber er wirkte ruhig. Das Ausschlafen war ihm sichtlich gut bekommen. Als er sie zu sich winkte, folgte sie umgehend, legte den Umhang ab und löste auch den Schleier vom Gesicht. Das Gespräch trug zum beidseitigen Verstehen bei und schließlich zog Cato sie kurz an sich und seine Lippen berührten ihre Fingerknöchel.
"Nichts wird zwischen uns kommen, meine Gefährtin. Oder denkst du, dass dies Weib mich beeinflussen könnte?", er sah ihr in die Augen, während er ihre schmale Hand hielt.
Die nächsten Worte, das war Amira klar, mussten gut gewählt sein.
"Sicher vermag keine Frau den Fluss deiner Weisheit zu stoppen oder zu lenken, Cato. Aber ich erinnere mich, dass wir immer zusammen stark waren. Ich brauchte oft nichts sagen, aber allein meine Gegenwart hat dir so häufig geholfen Ruhe und Überblick zu bewahren. Denk an Kasra, denk an Jort's Fähre. Du bist stark. Aber mit mir im Rücken bist du stärker."
Er schmunzelte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann war der Moment der Ruhe und des Friedens auch schon wieder vorüber. Nacheinander meldeten die Wachen verschiedene Besucher, darunter Lady Florence, die berichtete, dass Sir Turin mit der Vormundschaft einverstanden war. Zwei Apothekerinnen, die in Turmus ein Geschäft eröffnen wollten. Und dann noch Sir Gerd, dessen Anliegen Cato und Amira nach draußen auf die Palaststraße führte.
Denn hier befand sich der Tatort. Eigentlich musste man von Tatorten sprechen. Aber im Grund, so schmunzelte Amira in sich hinein, handelte es sich zwar um Sachbeschädigung, aber viel wichtiger war es, dass Turmus erwachte und sich zusammenschloss. Von Turmus' Erwachen zeugten eine Vielzahl roter Delka, die jemand oder mehrere auf die Häuserwände gezeichnet hatte. Amira spürte just in diesem Moment so einen großen Stolz auf die Bürger von Turmus, dass ihr Herz fast überfloss. Sie berührt kurz Catos Arm und lächelte ihm zu. In seinen Augen sah sie das gleiche Gefühl. Das Del-ka war das Zeichen der alten Werte und der alten Ordnung und das Zeichen des Kampfes gegen Cos und seine heimtückischen Expansionspläne, den Kauf von Sympathien und Einfluss mit Gold und kostbaren Waren.
Das rote Del-ka war ein Aufschrei. Eine Erinnerung. Eine Mahnung. Und es war eine Ohrfeige an Lady Ravenna. Nicht so eine, wie sie Amira verabreicht hatte, sondern eine viel Wirksamere. Amira betrachtete die roten Zeichen an den Wänden und dachte zurück an ihre Anfänge. Die Del-ka Organisation aufzubauen hatte zu Beginn ihrer beider ganze Kraft gefordert. Del-ka und ihr Schicksal waren auf untrennbare Art und Weise miteinander verbunden.
Cato zeigte sich heiter und bat den Admiral auf die Nachforschungen nach den Tätern nicht allzu viel Energie zu verschwenden. Dem Admiral, einem ihrer ersten Mitstreiter, kam dies sehr entgegen. Aber er hielt auch nicht mit seinen Befürchtungen hinter dem Berg. Die Mahnung, sagte er ruhig, seien an den Administrator gerichtet. Sie zeigten, so der Admiral, auch die Sorge der Bürger, er könne sich von Cos möglicherweise einwickeln lassen. Amira nickte. Sie hatte gestern im Zorn Cato bereits Ähnliches gesagt. Zu lange schon war die cosische Gesandte in der Stadt und es war kein Geheimnis wieviel Zeit und Aufmerkamkeit sie vom Administrator forderte.
"Wenn du mir erlaubst einen Vorschlag zu machen, Cato", sagte Amira leise. Er nickte und sie fuhr fort. "Die Aussagen von Sir Gerd decken sich mit meiner Einschätzung der Lage. Das Volk fürchtet du könntest nachgeben. Du solltest zum Volk sprechen. Eine große Rede halten und den Standpunkt klarmachen, den Turmus Cos gegenüber einnimmt. Du musst ihre Furcht aufnehmen und ihre Herzen besänftigen, sie müssen dir zujubeln. Ich glaube, diese Rede könnte sogar dazu führen, dass Lady Ravenna ihr Hab und Gut packt und aus Turmus verschwindet. Die Rufe des Volkes werden hoch bis zu ihrem Quartier dringen."
Der Admiral nickte zustimmend. Auch Cato nickte. "So soll es sein. Die Rede wird auf dem Forum stattfinden. So bald wie möglich."
Amira atmete auf. Fast zärtlich wanderte ihr Blick über eines der roten Zeichen, als von hinten Talias Stimme erklang. Sie wünschte Cato zu sprechen, Sir Jarcath begleitete sie. Der Admiral verabschiedete sich zum Training und Cato winkte Talia und Jarcath mit sich in den Palast. Dort angekommen kam das Gespräch recht schnell auf den Punkt. Talia hatte für Cato Nachforschungen angestellt, bei denen es um Andeutungen von Ravenna ging, warum Cos ausgerechnet an Turmus ein so großes Interesse hatte.
Talia berichtete zügig und mit klaren Worten von einem Ubar namens Bila Huruma in den Dschungeln von Schendi. Die Andeutungen von Ravenna bezogen sich auf einen Kanalbau durch sumpfiges Urwaldgebiet, über einen unglaubliche Strecke von 400 Pasang. Was Cato nicht hatte glauben wollen war, dass es besagtem Bila Huruma tatsächlich gelungen war, einen Kanal mitten durch die Wildnis zu bauen und so einen Handelsweg von unglaublich großem logistischen Wert zu schafffen. Vergleichbar nur mit dem Bau eines Kanals durch das Vosk-Delta....
Amira sah Talia fassungslos an. "Aber das kann man doch nicht vergleichen. Cos kann doch keinen Kanal durchs Del-ta bauen. Dazu müssten sie erst an Port Kar vorbei und nicht zu vergessen die Rencer!"
Talia schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. "Ich glaube nicht, dass sie bei Port Kar beginnen wollen, Amira."
Mit einem Mal begriff Amira und Cato sprach aus, was sie dachte.
"Sie wollten Turmus als Tor zum Del-ta und als unterstützendes Außenlager für den Bau des Kanals. Ravenna sprach von viel Holz und von Streitkräften, die nötig sein werden. Turmus soll ihnen das Tor zwischen Thassa und Inland öffnen. Port Kar würde dann von zwei Seiten aus in Bedrängnis geraten."
"Überlegt, wie kostbar ein solches Tor zur Thassa wäre. Die Waren müssten nicht mehr umständlich auf dem Landweg um das Delta herum transportiert werden, sondern auf Schiffen durch den Kanal. Selbst wenn er nur sehr schmal wäre." sagte Talia.
"Und es wäre ein direktes Tor ins Inland für alle Mächte der Thassa, allen voran Cos." sagte Amira betroffen. Mit einem Mal war sie wieder da die Furcht, dass Cato der Versuchung von Gold und Reichtum nachgeben könnte. Auch Turmus hätte dann Zugang zur Thassa. Die Strecke betrug gerade einmal 200 Pasang.
Cato bedankte sich bei Talia für die prompte und sorgfältige Erledigung des Recherche-Auftrags und wirkte nachdenklich, als Talia und Jarcath den Palat verlassen und Richtung Zylinder der Schriftgelehrten aufgebrochen waren. Sie hatte den Auftrag bekommen mit Lady Ravenna zu sprechen. Nicht als Bewohnerin von Turmus, sondern als Reisende aus Jorts Fähre. Möglicherweise ein Vorteil um zu mehr Informationen zu kommen.
Das Tor zur Thassa. Ohne Zweifel eine verlockende Aussicht für viele. Aber sie war sich sicher, dass Cos auch in Turmus nichts weiter sah als ein Mittel zum Zweck. Eine Vasallenstadt, tanzend nach einer goldenen Pfeife, geblasen von Lurius con Jad.