Wiedergeburt
Das Erwachen kam übergangslos. Um sie herum war alles still. „Wo bin ich?“ dachte sie, „Was ist passiert?“ Dann setzte die Erinnerung wieder ein: die Wüste, ihr Abschied, der Marsch, der in den Tod führen sollte. Aber sie lebte! Sie öffnete die Augen und sah sich vorsichtig um. Im schwachen Schein einer Kerze erkannte sie die Konturen einer Höhle. Sie lag auf einem Holzgestell, bedeckt mit Fellen. Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, darauf lag sorgfältig zusammengefaltet ihre Kleidung, obenauf ihr Dolch. Auf ihren Lippen spürte sie eine dicke Schicht einer Salbe, ihre Gesichtshaut spannte und ihre Augen brannten. Sie riss die Felle von ihrem Körper und sah an sich herab. Sie war nackt, ihre Füße waren verbunden. Ihr war klar, was das bedeutete: Jemand hatte sie gefunden und gerettet, hatte sie um den Tod betrogen. Wut stieg in ihr hoch: „Oh nein!“ murmelte sie, „So nicht!“ Ihr Hand tastete nach dem Dolch und schloss sich mit festem Griff um dessen Heft. Dann wandte sie die Waffe gegen sich selbst, dort, wo das wild hämmernde Herz schlug. Aber sie zögerte. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, minutenlang kämpfte sie mit sich selbst. Dann schüttelte sie den Kopf, Tränen füllten ihre Augen, und langsam ließ sie die Hand wieder sinken. Nein, das Leben, das sie hier beenden wollte, gehörte nicht mehr ihr, es gehörte demjenigen, der sie rettete.
Der Körper des alten Mannes entspannte sich. Er hatte ihren langen Kampf genau verfolgt, bereit, beim kleinsten Hinweis, dass sie zustoßen wollte, einzugreifen. Fast bedauernd fiel sein Blick auf das bereitgelegte Collar. Hätte sie es versucht, er hätte keinen Moment gezögert, sie zu retten und dann die Schuld einzufordern. Aber so waren sie quitt, ein Leben für ein Leben. Er seufzte und trat hinter dem Vorhang hervor, der ihn vor ihren Blick verborgen hatte. Und er wusste, dass seine Arbeit wohl gerade erst begonnen hatte.
Sie sah nicht auf, als sie das Geräusch hörte. Statt dessen brachte sie ihren Körper in eine kniende Position. „Fremder, ihr habt mein Leben gerettet. Ich wollte es nicht, aber ihr habt es getan. Damit gehört mein Leben nun euch.“ Während sie sprach, begann sie langsam die Arme zu heben, um die Geste auszuführen, die ihr Schicksal besiegeln würde. „So nehmt denn, was euch...“ Sie brach ab, als sich zwei alte, schwielige Hände auf die ihren legten und sie sanft aber bestimmt nach unten drückten. „Was...?“ Sie schaute überrascht nach oben, in das Gesicht des Fremden, und ihre Augen weiteten sich.
Sie blickte in ein Gesicht, das sie kannte. Schlaglichter aus der Vergangenheit tauchten vor ihr auf. Die beiden Söldner, die versuchten, einen Nomaden zu töten, ihr Eingreifen, der Schwur des Nomaden, seine Schuld eines Tages zurückzuzahlen. Und mit den Bildern wuchs die Erkenntnis in ihr, dass ihr Leben doch noch ihr selbst gehörte. „Ihr!“ hauchte sie, „Nach all den Jahren...“ Sie brach ab, ein raues Lachen drang aus ihrer Kehle. „Also habt ihr euren Schwur doch noch erfüllt.“
Der Alte nickte: „Aye, das habe ich. Aber ich denke, noch ist meine Arbeit nicht getan. Deinen Körper habe ich gerettet, aber was ist mit deinem Geist?“ Sie senkte die Augen, blickte auf einen Punkt, der irgendwo in der Ewigkeit lag. „Ich habe jetzt zweimal versucht, mich zu töten und zweimal versagt, vielleicht habe ich beim dritten Mal mehr Glück...“, ihr Stimme brach und sie schluchzte. Der Alte sah sie lange an, „Warum?“
Es war wie ein Damm, der brach, eine Woge der Gefühle überschwemmte sie, und die Worte sprudelten aus ihr heraus: „Ich bin eine Frau, nur eine Frau auf Gor, einer Welt, die den Männern gehört. Ich sollte nicht herrschen, nicht über Krieger gebieten. Wer bin ich denn schon? Manche spotten über die Bakah, weil sie einer Frau folgen, das haben sie nicht verdient, also ging ich.“
„Das ist alles?“ fragte der Alte. „DAVOR läufst Du weg? DESHALB suchst Du den Tod?“ Er schüttelte den Kopf. „Warst es nicht du, die die Bakah wieder zum Leben erweckte, als sie nur noch vor sich hindämmerten? Nein Mädchen, Du bist vor der Verantwortung weggelaufen, stimmt's? Nicht vor der großen Verantwortung, sondern vor den vielen kleinen Dingen, richtig? Bist du wirklich SO schwach?“ Er hob den Dolch auf, der zu Boden gefallen war und warf ihn ihr zu. „Wenn das so ist, dann nimm den Dolch und stoß ihn dir ins Herz! Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du noch die Frau bist, die mir damals das Leben rettete und das Herz eines Kriegers hat, dann steh auf und stelle dich der Aufgabe, die dir das Schicksal gab. Nimm dir wieder, was dir gehört!“
Geschickt fing sie den Dolch auf und funkelte ihn an: „Ihr! Was wisst ihr denn schon?“ Da begann der Alte wild zu lachen. Das reizte sie so sehr, dass sie voller Wut den Dolch in seine Richtung schleuderte. Doch er zuckte nicht mal, als das Wurfgeschoss nur eine Handbreit an seinem Kopf vorbeizischte und sich in einen Balken bohrte. Er lachte immer weiter und verließ den kleinen, durch Felle und Decken unterteilten Raum. Da warf sie sich bäuchlings auf das Bett, vergrub das Gesicht in den Armbeugen und fing hemmungslos an zu weinen. Und während sie da lag und ihren Gefühlen freien Lauf lies, glomm tief in ihrem Herzen ein kleiner Funke auf, erwachte ein Wille von neuem, von dem sie geglaubt hatte, ihn für immer verloren zu haben. Und gleichzeitig erlosch der Wunsch in ihr, zu sterben. Irgendwann schlief sie erschöpft ein.
Als der alte Nomade später zurückkehrte, um nach ihr zu schauen, sah er sie lange an. Dann nickte er kurz und lies sie allein. Jetzt, das wusste er, war seine Arbeit getan, der Schwur erfüllt.